GENITALITÄT UND GENITALE ANGST

Genitalität und genitale Angst erschien erstmals 1995 im SkanReader 3/95
von Loil Neidhöfer

Die Reichsche Körperarbeit hat eine klare Zielsetzung: die Herstellung des vegetativen Ganzheitsempfindens durch die schrittweise Auflösung der Panzerung. Entscheidend für die letztendliche Wiederherstellung der durch die Panzerung zersplitterten „Einheitlichkeit des Körpergefühls“ (Reich) ist die Lösung der Beckenpanzerung, die einhergeht mit der Herausbildung des Orgasmus-Reflexes, welcher schließlich eine gesamtorganismische Entladung akkumulierter pathogener Energiebeträge in der genitalen Umarmung  ermöglicht. Wird die Fähigkeit zur gesamt-organismischen orgastischen Entladung dauerhaft etabliert und gelebt, dann wird der Organismus von der  einheitlichen pulsatorischen Bewegung der natürlichen Körperenergien erfaßt. Reich spricht hier vom vegetativen Einklang des Ichs mit der Natur (1). Wegen der herausragenden Bedeutung der entwickelten genitalen Sexualität und ihres Kriteriums, der orgastischen Potenz (2), für die Wiedererlangung der verlorenen vegetativen Ganzheit, spricht er von sexualökonomischer Gesundheit als dem definierten Therapieziel oder kurz von Genitalität.

Durch die gegebene Zielsetzung Genitalität und die ihr innewohnende Dynamik erhält die Arbeit von vornherein eine Ausrichtung, eine gewisse Zwangsläufigkeit, Ordnung und Logik im Ablauf. (Von dem ebenso zwangsläufig auftretenden Chaos, der Verwirrung, dem Unberechenbaren, Unverständlichen, der Stagnation wollen wir hier einmal absehen.)

In der konkreten Arbeit ist Genitalität meistens lange Zeit kein wirkliches Thema, auch wenn sie dem Klienten als theoretisches Modell oder auch als persönliche Sehnsucht bewußt sein mag. Zu einnehmend ist die meist langwierige Durcharbeitung der unabweisbaren prägenitalen Themen, die Lösung der oberen Segmente, die oft alle Kraft und allen Mut des Klienten erfordern.

Aber die Therapeutin muss auch bei der Arbeit an den prägenitalen Themen die Genitalität des Klienten im Auge behalten. D.h. sie muss nicht nur die spontanen vegetativen Reaktionen im Sinne eines segmentären „Tiefergehens“ registrieren, sondern auch die subtilen und versteckten Hinweise auf bevorstehende oder mögliche kleine und große vegetative Durchbrüche aufmerksam beobachten und den Klienten dort aktiv unterstützen.

Ebenso muss die Therapeutin ihre Interventionen nach dieser allgemeinen Zielrichtung ausrichten und den kürzesten Weg zur sexualökonomischen Gesundheit des Klienten suchen. (3)

Diese Zielrichtung ist – im Kontext der Reichschen Lehre von der segmentären Anordung der Panzerung – konkret genug, um der weit verbreiteten therapeutischen Interventions-Beliebigkeit vorzubeugen. Gerade in der Körpertherapie geschieht heutzutage zuviel nach dem Motto: “Mal sehn, was passiert.“ Passieren tut immer was, besonders, wenn man jemanden im Feld eines energetisch hochgeladenen Settings körperlich berührt. Es ist sehr leicht, dramatische Effekte zu erzielen, die jedoch nicht per se therapeutisch wirksam, d.h. heilsam sind. Therapeutische Beliebigkeit ist letztlich ein Hinweis auf die unreflektierte und unbearbeitete genitale Angst des Therapeuten, worauf wir später zu sprechen kommen.

Schließlich wirkt die grundsätzliche Zielgerichtetheit in der Arbeit auch einer weiteren grassierenden Therapeuten-Unart entgegen: viele Körpertherapeuten sehen sich gerne in der Rolle des „Begleiters“, der dem Klienten non-direktiv überall hin folgt (und ihn somit nirgends hinführt). Körpertherapeuten sind keine neutral-freundlichen Begleiter. Sie haben ihre Klienten beständig an ihre Grenzen, an die Schwellen neuer, tieferer Erfahrungs-Räume im eigenen Organismus zu führen und müssen sie dabei unterstützen, sich diese Räume zu eigen zu machen. Dabei nehmen sie aktiv Einfluß auf die Klienten und auf die Beziehung. Daß therapeutische Aktivität in der Körperarbeit oft genug darin besteht, aus dem Weg zu gehen und Raum zu geben, steht hierzu nicht in Widerspruch. Aufgrund ihres spezifischen  Wissens und ihrer Erfahrung müssen Körpertherapeuten bereit sein, die Verantwortung für diese oft energische Einflußnahme zu übernehmen. Ist der Prozeß der segmentären Entpanzerung erst einmal in Bewegung gekommen, merken die Klienten meistens sehr genau, ob der Therapeut  sie nur „überall hin begleitet“ oder ob er sie herausfordert zu wachsen. Gerade in der Körpertherapie bewahrheitet sich der Satz, daß Wachstum durch Herausforderung, Anforderung und Konfrontation auf der Basis einer respektvollen und freundschaftlich-liebevollen Beziehung geschieht.

Körpertherapie, die auf Reichs Konzept der Sexualökonomie beruht, ist keine spezielle Sexualtherapie, die an der Symptomatik der sexuellen Dysfunktionen ansetzt. Sie ist auch keine technisch-funktionale Körperarbeit, die auf die Herausbildung des Orgasmus-Reflexes abzielt. Genitalität und orgastische Potenz sind keine Therapieziele, die strategisch erreichbar oder gar einübbar sind, sondern stellen sich ein, wenn der Organismus Segment für Segment korrekt durchgearbeitet wird. 

Genitalität hat bei Reich verschiedene Aspekte: Gemeint ist zunächst und vor allem die Fähigkeit zur orgastischen Entladung angestauter Energie in der genitalen Umarmung. Darunter ist nicht (wie etwa bei Kinsey oder Masters und Johnson) ein irgendwie zustande kommender und nicht näher qualifizierter sexuell-genitaler „Höhepunkt“ zu verstehen; vielmehr beschreibt Reich verschiedene einander bedingende qualitative Merkmale orgastischer Potenz (4) z.B.: 

– den freien Fluß der natürlichen Körperenergien durch alle Segmente (beobachtbar z.B. an der Atemwelle und der einheitlichen, lustvollen Wellenbewegung des gesamten Organismus (Orgasmus-Reflex) (5), 

– starke unwillkürliche Beckenbewegungen, die kurz vor dem Höhepunkt einsetzen und schließlich den gesamten Organismus erfassen,

  ungebremste Hingabe an diese vegetativen Bewegungen,

  Verweilen in der gegenwärtigen sinnlichen Erfahrung mit der Partnerin oder dem Partner („…ungeteiltes Versinken in der strömenden Lustempfindung“) (6).  Freiheit von stimulierender Phantasietätigkeit über Dritte oder den Partner während der genitalen Umarmung,

  kurzfristige Bewusstseinstrübung/ Kontrollverlust,

  orgonotische Überlagerung (Verschmelzung) mit der Partnerin,

  Rückströmen der Energie, Entspannung, subjektives Gefühl der Befriedigung, kompletter Abbau der Erregung nach dem Orgasmus, 

  psychische Aspekte: zärtliche Gefühle, Liebesgefühle und Dankbarkeit gegenüber dem Partner (7).

 Ausgehend von diesen Merkmalen orgastischer Potenz beschrieb Reich die Haltung  (das „Gesamtwesen“) des genitalen Charakters, den er scharf vom neurotischen Charakter unterschied. Die Haltung des genitalen Charakters basiert auf der (wieder-) hergestellten vollen sexuellen Erlebnisfähigkeit und zeichnet sich durch vegetative Beweglichkeit und kongruente emotionale Ausdrucksfähigkeit aus. Den wesentlichen Unterschied zum moralisch zwangsregulierten neurotischen Charakter sieht Reich in der sexualökonomischen Selbstregulation. (8)

Mit der Entwicklung der Orgasmus-Theorie hatte sich Reich bekanntlich von Anfang an Ärger und Feindschaften eingehandelt. Als er 1923 seine Überlegungen zum ersten Mal im Kreise der Psychoanalytiker um Freud vortrug, bemerkte er „eine Vereisung der Atmosphäre in der Versammlung… Als ich endete, herrschte eisige Stille im Raum.“ (9) Dreißig Jahre später bemerkt er rückblickend: „Die meisten Psychoanalytiker waren genital gestört, und deshalb hassten sie die Genitalität. Das ist es.“ (10)

Genitalität ist auch heute noch in der Körpertherapie ein schwieriges, oft vermiedenes und ignoriertes Thema. Es berührt unsere größtmögliche Lust, Leidenschaft  und Sehnsucht und damit unsere größten Ängste, unsere tiefste Scham und Verletzlichkeit. Die Erfahrung tiefer, überwältigender Lust ist untrennbar gebunden an die Fähigkeit und Bereitschaft zur völligen Hingabe, sowohl an die energetische Bewegung im eigenen Organismus als auch an einen Partner; hierzu gehört  auch und vor allem die Bereitschaft, sich im Moment überwältigender Angst, tiefer Scham oder sexueller Ekstase zu zeigen, „das Gesicht zu verlieren“. Hingabe und „Loslassen“  wiederum sind in der durchschnittlichen westlichen Sozialisations-Erfahrung schwer traumatisierte Erfahrungsbereiche, sodass mit dem Thema Genitalität unweigerlich auch tiefsitzende Angst, Abwehr und Beziehungsvermeidung manifest werden.

Im Zusammenhang mit der Erarbeitung der Sexualökonomie machte Reich eine weitere bedeutende Entdeckung, die den Kern der neurotischen Angst betraf. Er stieß auf den gemeinsamen Nenner der vielfältigen Erscheinungsformen neurotischer Angst: die Genitalangst oder Orgasmusangst. 

Sie ist die Angst des dem Lusterlebnis entfremdeten Ichs vor der überwältigenden  Erregung des Genitalsystems. Die Orgasmusangst bildet den Kern  der allgemeinen strukturellen Lustangst… Sie äußert sich gewöhnlich als allgemeine Angst vor der Wahrnehmung jeder Art vegetativer Empfindungen und Erregung oder der Wahrnehmung solcher Erregungen und Empfindungen. Lebenslust und Orgasmuslust sind identisch. Die äußerste Erscheinung der Orgasmusangst bildet die allgemeine Lebensangst. (11) (Hervorhebungen von Reich)

Angst ist ein ständiger Begleiter im Verlauf des Entpanzerungsprozesses. Das Wiederherstellen, das Zurückgewinnen von Lusttoleranz und Strömungsempfinden geschieht Schritt für Schritt und Segment für Segment nur um den Preis bewusst durchlebter Angst, Wut und Trauer. Im günstigen Therapieverlauf erinnert sich der Organismus (physisch und psychisch) an die bedrohlichen Traumatisierungen, mobilisiert genügend aggressive Energie zur Auflösung des jeweiligen Panzerungs- bzw. Charakter-Musters, kann trauernd Abschied nehmen von der alten Struktur und ist dann frei für die Aneignung neuer Erfahrungsräume und eine tiefergehende Bahnung des Energiestromes im Organismus.

Diese Veränderungen geschehen bis zur Auflösung bzw. Antastung der Beckenpanzerung „charakterimmanent“. Vermehrte Lusttoleranz und intensiveres Strömungsempfinden wie auch Symptomauflösungen unterliegen immer noch der  Kontrolle und Bremsung in den Grenzen der bestehenden Charakterstruktur. Erst die Passage durch die Genitalangst eröffnet die Möglichkeit zu dauerhaften charakterologischen Veränderungen. Die Genitalangst ist die kritische Schwelle. Die Konfrontation mit ihr ist total. Sie läßt sich nicht dosieren oder sonstwie im Sinne verhaltenstherapeutischer Angstbewältigung angehen. Man ist irgendwann bereit, sich dieser Erfahrung hinzugeben – oder nicht. Man springt von der Klippe ins Meer – oder man bleibt oben.

Im Erleben ist die Genitalangst nur zu vergleichen mit realer Todesangst, mit dem Unterschied, daß ein spezifisches Angstobjekt fehlt. Dabei kann es bei der Passage durch die Genitalangst zu verschiedensten Verlaufsformen kommen: die Angst kann nur wenige Minuten auftreten und dann für immer vorbei sein. Sie kann über Tage, Wochen oder Monate in wiederkehrenden Schüben auftreten, die von wenigen Sekunden bis zu mehreren Stunden dauern können. Sie kann sich im extremen Fall als quälendes, wochenlanges Feststecken in der Angst manifestieren und in der Erscheinungsform agoraphobischen, sozial-phobischen oder vergleichbaren Zuständen ähneln.  

In jedem Fall handelt es sich um eine quasi-lebensbedrohliche Angsterfahrung, die wiederum in verschiedenen Qualitäten auftreten kann: manche berichten von dem – psychotischen   Angstschüben vergleichbaren – Gefühl gesamtorganismischen  „Schrumpfens“ und der begleitenden Angst, buchstäblich zu verschwinden. (In einem konkreten Fall wurde die Analogie zum Kleinerwerden und Verschwinden durch den Abfluß der Badewanne beschrieben.) Andere berichten von extremen Stauungs-Sensationen an verschiedensten („unlogischen“) Körperbereichen. Wieder andere erleben extreme Kontaktangst, z.B. Angst vor Blickkontakt, Berührungsangst. Diese Angstzustände können während der genitalen Umarmung  auftreten, sie müssen es aber nicht. Oft treten sie im unmittelbaren Vorfeld der intimen Begegnung auf, oft jedoch – und anscheinend in den meisten Fällen – scheinbar unabhängig und außerhalb von sexuell-intimen Situationen, oft sogar, wenn die Betreffenden allein sind.

Manche berichten von Empfindungen, als ob sich eine Kraft durch das Becken hindurcharbeite, bzw. von einem „Rumoren“ im Becken. Andere berichten von einem starken Energiestrom, der aus dem Becken an der Frontallinie oder an der Wirbelsäule hochsteigt und (in als bedrohlich empfundener Weise) verschiedene Zentren erreicht und durchdringt, etwa Solarplexus, Herzgegend oder Okkularbereich.

Die Passage durch die Genitalangst kann auf Anhieb geschehen oder erst nach mehreren „Anläufen“. Im letzteren Fall ist die Angsterfahrung immer wieder aufs Neue überwältigend; es tritt keine Gewöhnung ein. Wegen der Verschiedenheit der Erscheinungsformen ist den Betreffenden nicht immer sofort bewußt, was geschehen ist. Alle berichten jedoch ausnahmslos von einer entscheidenden Veränderung, die manchmal erst Wochen oder Monate nach der Passage durch die Genitalangst deutlich wird: dem allmählichen Ausbleiben der neurotischen Angst und ihrer Symptomatik. 

Dies ist ein eindrucksvolles Ergebnis, das größte Aufmerksamkeit verdient und oft erhebliche soziale Folgen hat: neurotische Anpassungen jeder Art (z.B. „Kuschen“) am Arbeitsplatz oder in der Beziehung bröckeln, was neue, andere Probleme und Konflikte schafft. Beziehungen, die überwiegend auf Angst und „Sicherheit“ gebaut sind, haben kaum Fortbestand, wenn die Partner nicht gemeinsam durch diesen Prozeß gehen.

Bei den geglückten Therapie-Verläufen findet der Durchbruch zur vollen Genitalität selten innerhalb der Therapiezeit statt. Die Therapie bringt die Betreffenden meistens an die Schwelle zur Genitalität, an einen Punkt, ab dem das Leben selbst zur Therapie wird.

Ein typisches Merkmal einer solchen geglückten Therapie ist z.B., daß Klienten beginnen, stabile intime Beziehungen einzugehen. Stabil nicht im Sinne ängstlicher neurotischer Partnerwahl und neurotischen Sicherheits-Denkens. Sondern stabil im Sinne einer herausfordernden Intimität, in der beide Partner sich wechselseitig an einander „heranwagen“, sich weiterentwickeln und ihre Charakterstruktur transzendieren können.

Der Maßstab für eine solcherart definierte Beziehungs-Stabilität ist nicht die Dauer der Beziehung, sondern das Fehlen bzw. Zurückweisen von neurotisch-manipulativen Haltungen, Machtspielen und Dominanzritualen, sowie die Bereitschaft, eine Beziehung aufzugeben, wenn sie sich als unbefriedigend erweist.

Die wenigsten gehen in ihrer Therapie jedoch bis an die Schwelle zur Genitalität bzw. darüber hinaus. Bei einer kurzen Durchsicht von ca. 300 Therapien aus den vergangenen zehn Jahren kam ich auf 5 bis 10 Prozent. Schätzungen von Kolleginnen und Kollegen ergaben ähnliche Werte.

Weshalb so wenige? Wenn man davon absieht, daß die klassische Form der gerichteten segmentären Entpanzerungsarbeit von Körpertherapeuten selten und selten konsequent und kompetent ausgeübt wird (und wenn man auch von Fehlern und Unzulänglichkeiten absieht, die in der Eigenart und persönlichen Begrenztheit des jeweiligen Therapeuten begründet sind), dann bleiben folgende Vermutungen:

a) Die Lösung des Beckens und das Durchleben der genitalen Angst sind extreme Herausforderungen. Ebenso, wie die volle sexuelle Erlebnisfähigkeit den meisten Menschen tragischerweise unbekannt bleibt, ist auch die Genitalangst etwas, was sie nie erleben und sich deshalb kaum vorstellen können. Die „normale“ Reaktion ist, solche gewaltige Angst, die sich, wenn überhaupt, lange vor ihrem Manifest-Werden als diffuses, mulmiges Gefühl äußert, schon frühzeitig durch Symptombildung abzuwehren. (12)

b) Viele begnügen sich mit Symptomlinderungen oder -auflösungen (die beträchtlich sein können), wollen keine tiefgreifenden Veränderungen in ihrem Leben und sind nicht motiviert, sich auf einen längeren Prozeß einzulassen.

c) Vonnöten ist offenbar eine starke Verzweiflung über die eigene Unerfülltheit, ebenso eine starke Sehnsucht nach Veränderung und Tiefe; ein Nicht-Mehr-Greifen der sentimentalen Selbst-Täuschungen, Vertröstungen und anderen üblichen Ablenkungen von der eigenen Not.

d) Die Vertiefung des Energiestromes im eigenen Organismus führt unweigerlich zu sozialer Unangepasstheit in der neurotischen Gesellschaft. Viele kapitulieren vor den ebenso unweigerlich folgenden Sanktionen, die oft mit existentiellen Schwierigkeiten verbunden sind. Ein Bewältigen dieser Schwierigkeiten im Alleingang erscheint oft unmöglich oder zu mühsam. „Genitalität“ kann inmitten der gepanzerten Gesellschaft kaum gelebt werden. Die Unterstützung durch das Zusammenleben von Leuten, die den gleichen Prozeß erlebt haben und einen Großteil sekundär-narzisstischer Lebensmotivation aufgegeben haben (und deshalb eine Menge Spaß miteinander und Freude aneinander haben können) ist erforderlich. Die Notwendigkeit von Community steht im Raum; ebenso die Aussicht, einen Rahmen schaffen zu können, in dem möglich wird, die einfache und schwierige, bescheidene und ausschweifende Vision zu leben, die Michael Smith auf die lakonische Formel brachte: to celebrate life.

Wenn man davon ausgeht, daß 1. der größtmögliche therapeutische  Erfolg über die Freisetzung der genitalen Sexualität bewirkt wird und andererseits 2. jede Form pathologischer Angst aus der Genitalangst abgeleitet (und in der Therapie dorthin zurückverfolgt) werden kann, dann hat dies Konsequenzen für die Haltung und Arbeit des Therapeuten. Die gesamte Arbeit muß grundsätzlich unter dem Aspekt der Annäherung an die genitale Haltung bzw. ihrer Vermeidung gesehen werden.

Das heißt natürlich nicht, daß die Therapie „sexualisiert“ werden soll. Aber die Therapeutin muß die Sexualität des Klienten – wie an einer langen Leine – im Blickfeld behalten, auch wenn es in der Therapie zunächst vordergründig um scheinbar nicht-sexuelle oder prägenitale Themen geht. 

Grundsätzlich ist die Körperarbeit immer an der Herstellung größerer Lusttoleranz und der Bahnung des vollständigen Energiestromes – zunächst vor allem längs und abwärts der Frontallinie – orientiert. Die Arbeit im prägenitalen Bereich muß im Dienst der Herstellung der Genitalität stehen, egal, ob diese schließlich erreicht wird oder nicht. Die Effektivität der Reichschen Körperarbeit – auch im prägenitalen Bereich – ergibt sich zu einem großen Teil aus ihrer Gerichtetheit. Nur so behält die Arbeit Konsequenz und einen Schutz vor therapeutischer Banalität, Mystifikation und Beliebigkeit. 

Auch die Arbeit im prägenitalen Bereich hat immer starke sexuell-genitale Implikationen. Das betrifft nicht nur die Lockerung des Zwerchfells, die Lösung genital-sexueller Traumatisierungen in Brust und Hals oder das Wiederaufleben oraler Lust (Schmecken, Lecken, Saugen). Das trifft auch schon für die Arbeit im okularen Segment zu: Sexualität beginnt in den Augen. Andererseits besteht kulturell ein weitgehend introjiziertes Verbot, sexuelle Lust oder generell erotische Empfindungen in den Augen zu fühlen und mit den Augen auszudrücken – auch in intimen Situationen.

Manche Klienten erleben in der Anfangsphase der Therapie, nachdem das Augensegment ein wenig gelockert wurde, einen starken genital rush, eine oft dramatische und überraschende Steigerung des sexuellen Verlangens und Intensivierung des sexuellen Erlebens. Dieser Schub kann ein paar Tage anhalten, bis die Panzerung wieder greift. Die Betreffenden sind meistens sehr glücklich darüber, da sie ahnen, daß sie nun „einen Fuß in der Tür haben“.

Es gibt zwei generelle Herangehensweisen in der Arbeit: „von oben“ und „von unten“. Bei einschneidenden und identitätsbestimmenden frühen Störungen und Traumatisierungen arbeitet man sich in der Regel „von oben“, also mit dem Augensegment beginnend, durch die Segmente, wobei meistens viel direkte Arbeit an der gewordenen physischen Struktur (vor allem Muskeln und Bindegewebe) zu leisten ist und der Organismus Segment für Segment re-energetisiert wird.

Der typische therapeutische Fehler („Pushen“) bei der Arbeit „von oben“ besteht darin, die Klienten zu überfordern, indem man sie herausfordert, emotional-expressiver zu sein, als sie tatsächlich sein können, da sie noch keine biologische Basis hierfür haben.

Die Vorgehensweise „von oben“ ist jedoch für manche Klienten unangemessen. Nämlich für diejenigen, die in ihren ersten vier bis fünf Lebensjahren relativ unbehelligt von massiven Eingriffen in ihre natürliche Entwicklung geblieben sind und eine früh-genitale Identität gewinnen und ebenso einen Sinn für direktes Naturerleben herausbilden konnten.

Man könnte meinen, daß solche Menschen  glücklicher sein müssten, da sie sich eine ursprüngliche Lebendigkeit im Erleben und Handeln bewahrt haben. Sie leiden jedoch auch intensiver. Es ist ihnen nicht so leicht möglich, sich dumpf in ihrem Unglück einzurichten, wie das z.B. ein normal-neurotischer Schizoider kann. Sie leiden nicht so sehr an massiver organismischer Begrenztheit infolge Abpanzerung – der Körper ist meistens frei von größeren chronischen Blockaden. Sie hatten als Kinder vor allem unter den sozialen Reaktionen zu leiden, die sie im Zusammenhang mit ihrer entwickelten früh-kindlichen Sexualität und Lebendigkeit erfahren haben: Bestrafungen, Abwertungen, Verwirrungen,  Unverständnis, fehlende Ko-Respondenz oder emotionaler Mißbrauch (von dem der direkt-sexuelle Mißbrauch ein Spezialfall ist). Eine typische Überzeugung, die solche Klienten herausgebildet haben, ist z.B. dass sie mit ihrer Lebendigkeit eine „Zumutung“ sind, dass sie „zuviel“ sind, dass sie sich zurückhalten müssen, um akzeptiert und geliebt zu werden. Genau dies – das Zurückhalten – ist ihnen jedoch unmöglich, einfach, weil es aufgrund ihrer vorangeschrittenen expansiven psycho-sexuellen Entwicklung schon allein körperlich zu schmerzhaft ist. Es fühlt sich jedesmal an, als würde der gesamte Organismus bei voller Fahrt „notgebremst“. 

(Völlig anders verhält es sich z.B. beim „Schizoiden“, der zwar auch die Überzeugung introjiziert hat, „zuviel“ zu sein, jedoch nicht wegen seiner Lebendigkeit, sondern wegen seiner bloßen Existenz. Deshalb ist „Zurückhaltung“ für ihn eine leichte, früh trainierte Übung).

Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: es soll hier nicht dafür plädiert werden, Klienten der zweiten Kategorie als Opfer sozialer Umstände zu labeln. Sie sind für ihre Reaktionsbildungen selbst voll verantwortlich. Erforderlich ist jedoch eine andere therapeutische Herangehensweise: „von unten“.

Die Schubkraft der solchen Klienten relativ leicht zugänglichen sexuell-genitalen Energie muß genutzt werden, den gesamten Organismus „von unten“ her zu energetisieren, die relativ leichten Abpanzerungen in den oberen Segmenten aufzulösen und den gesamten Organismus als  pulsierend und strömend erfahrbar zu machen. Dies ist bei solchen KlientInnen nicht schwierig und kein therapeutischer Erfolg. Die Therapie beginnt hier erst damit, sie zu unterstützen, in diesem lebendigen Zustand „in der Welt“ zu sein. Das kann sehr schwierig sein. Dieser Krampf im Kopf, die Überzeugung, „zuviel“ zu sein und die damit verbundene Angst – die immer vor dem Hintergrund früher genitaler Traumatisierungen besteht und immer ein rastloses Pendeln zwischen genitaler Angst und genitaler Frustration einschließt – können resistenter sein als irgendeine massive chronische muskuläre Blockade.

Die Therapie besteht zunächst weitgehend darin, Raum zu geben, Erlaubnis zu geben, sich auszudehnen und sich lustvoll zu fühlen.  Das ist aber nicht alles. Therapeutisch-pädagogische „Haltungen“ nützen hier nichts bzw. verderben alles. Erforderlich ist eine menschliche Reaktion des Therapeuten. Erforderlich ist es, die vegetative Lebendigkeit eines solchen Klienten (die immer eine erotische Lebendigkeit ist) anzuerkennen und als „Geschenk“ statt als „Zumutung“ ehrlich, glaubhaft und begeistert wertschätzen zu können.

Der Therapeut muß also untherapeutisch sein können, wenn es darauf ankommt, die Lebendigkeit und das Strömen eines anderen Individuums in seinem Organismus spontan nachzuvollziehen, mitzuerleben und mitzuschwingen. 

Der typische therapeutische Fehler bei der Arbeit „von unten“ besteht darin, die Lebendigkeit, die Anmut, die Sexualität des Klienten zu ignorieren und diese Person auf die (meistens „hysterische“) Symptomatik zu reduzieren, auch wenn solche KlientInnen oft durch „playing stupid“ dazu einladen. Endlos ist die Reihe ineffektiver Therapien, in denen  „hysterische“ Klienten und „schizoide“ Therapeuten ihr Lebensdrama ausagieren.

Tatsächlich setzt die Arbeit weder „oben“ noch „unten“ an; eine tiefere Sichtweise enthüllt eine kreis- bzw. spiralförmige Bewegung der therapeutischen Arbeit: die Energie zirkuliert im Organismus, und man folgt diesem Kreislauf und seinen Behinderungen solange, bis alle wesentlichen Blockaden beseitigt sind; dies gilt ebenso für die zweite wichtige Art der Energiebewegung, mit der wir zu tun haben: von innen nach außen, vom Kern zur Peripherie. „Oben“ und „unten“, „innen“ und „außen“ stehen dabei in enger wechselseitiger Beziehung: bestimmte Störungen im Okularbereich können z.B. erst angegangen werden, wenn ein bestimmter Grad der Lockerung im Becken erfolgt ist und umgekehrt. Ein strenges, mechanisches Arbeiten von oben nach unten führt nirgendwo hin. Im Verlauf eines erfolgreichen therapeutischen Prozesses durchläuft man eine solche zirkuläre Bewegung durch alle Segmente etliche Male.

Der Therapeut braucht vor allem eine realistische Selbst-Einschätzung seiner eigenen Sexualität. Er kann seine Klienten nur soweit bringen, wie er selbst gekommen ist und muß den Mut haben, Klienten gegebenenfalls weiter zu verweisen oder gehen zu lassen. 

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man nicht erwarten, daß jeder Körpertherapeut das genitale Stadium erreicht hat. Die meisten (jüngeren) Körpertherapeuten befinden sich (hoffentlich) in einem Prozeß, der sie dorthin führt.

Die Therapeutin muß jedoch in ihrer eigenen sexualökonomischen Entwicklung mindestens soweit vorangeschrittten sein, dass sie den segmentären Verlauf des Entpanzerungsprozesses grundsätzlich aus eigener Erfahrung bestätigen und die generelle therapeutische Zielsetzung Genitälität als angemessen und wahr verfolgen kann.

Nicht-Bewältigung der genitalen Angst auf Therapeuten-Seite führt zu einem Rückzug der Energie in die oberen Segmente, zu übermäßigen Strukturierungs- und Kontrollbedürfnissen und letztlich zu einem Desinteresse an der Sexualität der Klienten, zu einem Vermeiden der Sexualität in der therapeutischen Arbeit, kurz: zur Angst vor der Sexualität und allgemein vor der vegetativen Lebendigkeit der Klienten. Damit ist der Abmarsch in therapeutische Beliebigkeit, Banalität und Mystifikation vorprogrammiert.

Dies hat Konsequenzen für die Ausbildung künftiger Körpertherapeuten. Der „ideale“ Ausbildungskandidat wäre ausgestattet mit voller sexueller Erlebnisfähigkeit und der Fähigkeit, Intimität herzustellen. Die Ausbildung könnte sich dann auf die Vermittlung von Wissen, Handwerklichem und Supervision beschränken. Solche Kandidatinnen sind jedoch rare Glücksfälle.

Daher wird „Ausbildung“ noch für lange Zeit eine spezielle Form der Gruppentherapie für angehende Therapeuten bleiben. Der Focus der Ausbildung muß erstens darauf liegen, die Trainees herauszufordern, so tief in ihren Körper zu kommen, daß sie die Schwelle zur Genitalität erreichen. Die Auswahl der Ausbildungsgruppe muß von der Überlegung geleitet sein, ob jemand eine realistische Aussicht hat, im Verlauf des Trainings dorthin zu kommen.

Zweitens müssen Trainees dazu angeleitet werden, als Personen kontaktvoll in der Welt zu sein. Bezogen auf die Körperarbeit heißt das vor allem, daß sie es lernen, Feldkontakt herzustellen, die energetische Bewegung in einem anderen Individuum im eigenen Organismus nachvollziehen zu können.

Und drittens – aber erst an dieser nachgeordneten Stelle – geht es um die Vermittlung von spezifischem Wissen, Techniken und Supervision.

Anmerkungen

1) Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus  Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1972, 

2) „Sie ist die Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung, die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauten sexuellen Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckung.“ (Wilhelm Reich: a.a.O. S. 81)

3) Dieser „kürzeste Weg“ ist, wie jeder Kliniker weiß, meistens eine Abfolge von Umwegen und Rückschritten, von Verweilen und Weitergehen. Körpertherapie besteht natürlich auch nicht nur aus einer Serie von „vegetativen Durchbrüchen“, sondern ist immer ein dialektischer Prozeß zwischen der tieferen Bahnung des Energiestromes im Organismus und der Anpassung des gesamten Lebensprozesses an diese erreichte, tiefere energetische Besetzung.

4) Wilhelm Reich: Frühe Schriften 2, Genitalität in der Theorie und Therapie der Neurose, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1985 

5) „Es ist zweifellos das Grundkennzeichen psychischer und vegetativer Gesundheit, wenn der vegetative Organismus die Fähigkeit besitzt, einheitlich und total der Spannungs-Ladungs-Funktion zu folgen. Dagegen werden wir Aussperrungen  von Einzelorganen oder gar Organgebieten aus der Gesamtheit und Einheitlichkeit der vegetativen Spannungs-Ladungs-Funktion als pathologisch bezeichnen, wenn sie chronisch sind und die Gesamtfunktion dauernd stören. Die Klinik lehrt des weiteren, daß sich Störungen des Ich-Gefühls erst dann wirklich verlieren, wenn der Orgasmusreflex vollkommen einheitlich entwickelt ist. Es ist dann, als ob alle Organe und Organsysteme des Körpers von einer einzigen Funktion in der Empfindung einheitlich zusammengefaßt würden, sowohl in Bezug auf Kontraktion wie auf Expansion.“ (Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, S. 267; Hervorhebungen von Reich)

„…Nun besteht der Orgasmus-Reflex gerade darin, daß eine Welle von Erregung und Bewegung vom vegetativen Zentrum über Kopf, Hals, Brust, Ober- und Unterbauch bis zum Becken und dann zu den Beinen abläuft. Wird diese Welle an irgendeiner Stelle aufgehalten, verlangsamt oder gesperrt, dann ist der Reflex „zersplittert“. Unsere Kranken zeigen nun gewöhnlich nicht eine, sondern viele derartige Sperrungen und Bremsungen des Orgasmusreflexes an verschiedenen Körperstellen.“ (Wilhelm Reich, ebd. S.249f.)

6) Wilhelm Reich, a.a.O. S. 83

7) Aus der Perspektive der Panzerung liest sich diese Aufzählung wie eine Auflistung von Introjekten, die die neurotische Angst verstärken. Typischerweise wird in Gruppen, in denen die Sexualökonomie zu früh oder ungeschickt „zum Thema“ gemacht wird, Sexualität in den Dienst der Panzerung gestellt (z.B. in Form narzißtischer Selbstpräsentation oder Rivalität.)

8) Wilhelm Reich, a.a.O. S.129 ff

9) Wilhelm Reich, a.a.O. S.78

10) Wilhelm Reich über Sigmund Freud /  Das Reich-Eissler-Interview, zit. nach SkanReader 2/94, S. 49

11) Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus, S.124

12) Reichs Verdienst und Einzigartigkeit in der Literatur der Psycho- und Körpertherapie besteht u.a. darin, bio-energetische Abläufe im Organismus, die er z.B. unter den Begriffen Sexualökonomie, Genitalität, orgastische Potenz, Spannungs-Ladungs-Funktion und eben auch genitale Angst beschrieben hat, entdeckt und auf den Begriff gebracht zu haben. 

Es gibt jedoch in der überlieferten volkstümlichen und auch in der zeitgenössischen Literatur Hinweise darauf, daß Genitalangst ein bekanntes und realistisch eingeschätztes Phänomen ist. Man lese z.B. Märchen wie Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen oder auch Kafkas Parabel Vor dem Gesetz unter diesem Blickwinkel.