The End of Therapy
Von der Körpertherapie zum Leben als Theater
von Loil Neidhöfer
The End of Therapy. Von der Körpertherapie zum Leben als Theater (die überarbeitete Fassung eines im Dezember 1998 am Ende einer dreijährigen Skan-Ausbildungsgruppe gehaltenen Vortrags) ist eine Hommage an David Carson und Jerzy Grotowski und im Titel eine Anspielung auf deren Arbeiten The End of Print bzw. Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug.
Ich möchte einiges hinzufügen zu dem, was hier gestern und heute gesagt wurde, vor allem unter dem Gesichtspunkt, welche Fall- stricke in der Arbeit zu beachten sind. Die größte Dummheit, die man als professioneller Anfänger in der Körperarbeit zwangsläufig macht (Fehler vom Typ „Donald“), besteht darin, dass man sich per Haltung grundsätzlich von seinen Klienten abgrenzt – weil sie Klienten sind. Dass man – bewusst oder unbewusst – irgendeine qualitative Differenzierung zwischen sogenannten Therapeuten und sogenannten Klienten trifft, die oft genug auch eine latente Geringschätzung der Klienten in sich birgt, auf jeden Fall aber die Klienten als „Arbeitsgegenstand“ definiert und sie als „Fall“ sieht. Gemeint ist nicht nur der konventionelle Therapeut, sondern auch der unkonventionelle Therapeut. Gemeint ist jeder Therapeut, der sich mit dem Therapeut-Sein identifiziert, sich auf formale Autorität und Expertentum zurückzieht, statt sich mit persönlicher Autorität in Beziehung zu setzen. Gemeint sind wir letztlich alle, da die Möglichkeit, sich in der eigenen Mechanik zu verfangen, immer im Hintergrund wartet.
Es ist nachvollziehbar, dass sich eine solche Unterscheidung im Bewusstsein junger Therapeuten einschleicht, weil die Unterschiede oft beträchtlich sind, was das Ausmaß an Reaktivität, Neurose und Panzerung betrifft, und auch das Tempo der persönlichen Entwicklung. Klienten entwickeln sich und wachsen, Therapeuten aber auch. In der Regel entwickeln sich die Therapeuten schneller als ihre Klienten, sofern ihr Prozess eine solide bio-energetische Fundierung hat. Insbesondere viele beginnende Therapeuten lassen sich daher leicht dazu verleiten, von „Therapeuten“ und „Klienten“ zu reden, als handele es sich um Populationen aus verschiedenen Sonnensystemen.
Diese Dummheit wird nicht nur in der Körperarbeit gemacht, sondern in allen Therapieformen, die mit der Psychodynamik und der Biodynamik zwischen Therapeut und Klient zu tun haben. In der Körperarbeit führt dies auf direktem Wege in die Ineffektivität, während es bei anderen Therapien zunächst nicht weiter auffällt, sondern zum Spiel gehört. Ein Stück Konkursmasse der Psycho- analyse, das alte Paradigma, das klassische Behandlungsmodell.
Es ist ein schwieriges, widersprüchliches Thema. Es geht mir um die Unangemessenheit des Begriffes „Therapie“ für all die Bereiche, in denen die Beziehung zwischen den handelnden Profis und ihren Kunden das entscheidende agens der Veränderung ist, wie z.B. in der Körperarbeit.
Weshalb kommen unsere Klienten zu uns? Letztlich, weil sie emotional traumatisiert sind. Das emotionale Trauma finden wir immer auf dem Grund der Symptomatik. Reich fand die Pulsationsstörung auf dem Grund jeder Symptomatik. Das besagt das Gleiche, vom Standpunkt des bio-energetischen Funktionierens betrachtet. Der Schock des emotionalen Traumas bedingt das bio-energetische Ungleichgewicht, die Pulsationsstörung, und schneidet uns ab von dem, was uns heilen könnte. Was uns heilt, ist – Intimität. Intimität ist die heilsame Grunderfahrung unseres Lebens in emotionaler und bio-energetischer Hinsicht. Es gibt viele Möglichkeiten, heilende Intimität zu erfahren, aber die tragenden Arrangements eines Lebens in Intimität reduzieren sich auf drei, wenn ich das richtig sehe: die Mutter-Kind-Liebe, die emotional- sexuelle Intimität liebender Paare sowie die sinnlich-energetische Intimität der spirituellen Verbindung.
Unsere Klienten haben bei aller Verschiedenheit eins (mit uns) gemeinsam: sie leiden an den Folgen nicht stattgefundener, defizitärer oder gar zerstörter Intimität. An diesem Punkt sind die Gemeinsamkeiten, die wir mit unseren Klienten teilen, schwerwiegender als alle Unterschiede. Wir leiden alle, mehr oder weniger, an den Folgen traumatisierter Intimität, tragen die gleichen Narben und Zeichen. Wir mögen scheinbar besser dastehen als unsere Klienten – kompensierter, geheilter, erwachsener – aber wir teilen mit ihnen die Erfahrung der gleichen Grundverletzung, des gleichen Basistraumas.
Als Körpertherapeuten schauen wir uns die Spuren an, die diese Traumatisierung im Körper unserer Klienten hinterlassen haben. Wir finden „Struktur“ vor: einen gewordenen Körper, einen geformten Charakter, und wir haben eine unmittelbare, spontane Reaktion darauf. Die Konfrontation mit unserem Klienten bewegt uns in der einen oder anderen Weise. Wir berühren unsere Klienten, nicht, um ein Resultat zu bewirken, sondern weil wir uns dazu bewegt fühlen. Wir „korrigieren“ den Körper nicht, wir sind frei von Absicht, irgendeine „Verbesserung“ vornehmen zu wollen.
Warum es nicht genügt, vertrauensvolle Gespräche zu führen, wenn es letztlich doch nur um Beziehung geht? Weil das emotionale Defizit, die beschädigte Intimität, vor allem auch ein körperlich- sinnliches Defizit ist: ein Defizit im Anschauen, Berühren, Halten, Gehalten-Werden, ein Defizit im sinnlich-konkreten Fühlen, im Körper zuhause sein.
Das emotionale Trauma ist nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern immer im Kontext von Beziehung und kann deshalb auch nur im Kontext von Beziehung geheilt werden.
Wenn Beziehung also das Wichtige ist in der Arbeit, dann kann man kaum noch von Therapie im herkömmlichen Sinne (Exper- tentum, Diagnose, Behandlungsstrategie) sprechen. Wir haben es mit Begegnung zu tun. Man kann es dialektisch sehen: als die Person, die wir unter Einschluß unseres Fachwissens und unserer fachspezifischen skills geworden sind, sind wir die verkörperte Antithese zur These „Klient“. Die Heilung, die Veränderung, die erfolgt, sei es die Auflösung einer muskulären Blockierung oder die Heilung einer seelischen Wunde, ist im Kern niemals das Resultat unseres intendierten „therapeutischen“ Handelns; die Veränderung erwächst als Synthese aus der Begegnung mit unserem Klienten. Schon Georg Groddeck und Fritz Perls wußten: „We don‘t integrate, it integrates!“
Diese dialektische Sichtweise des Prozesses erlaubt es uns, ein für allemal Schluss zu machen mit dem unwürdigen, unwahren Therapeut-Klient-Spiel. In unserer Branche, der Körperpsycho-therapie, gibt es kaum einen lächerlicheren Anblick als den eines Therapeuten, der mit seinem Therapeut-Sein identifiziert ist, im Zusammenspiel mit einem Klienten, der mit seinem Klient-Sein identifiziert ist. Die Verantwortung für eine solche Realsatire liegt allerdings ausschließlich beim Therapeuten. Es ist das gute Recht des Klienten, sich als solcher zu präsentieren; oft lässt ihm die Not keine andere Wahl.
Wir wissen es nicht wirklich besser als unsere Klienten. Wir sind nicht die Aufsichtsräte des Lebendigen. Allenfalls sind wir Spezialisten darin, Bewegung in erstarrte Strukturen zu bringen. Anders als ein Chirurg oder ein Krankengymnast haben wir für unsere Arbeit keinen maßgebenden Nullalgorhythmus objektiv beschreibbaren Funktionierens. Den haben wir in der Körperarbeit zwar in Reichs Modell des orgonotischen Funktionalismus, des bio-energetischen Funktionierens. Wir verlieren ihn jedoch, sobald wir mit unserem Klienten in Beziehung treten. Wir können keinen „objektiven“ Standpunkt einnehmen. Deshalb können wir nicht von Therapie reden. Es gibt in unser Arbeit nur Begegnung. Der Einwand liegt nahe, daß damit der Kurpfuscherei alle Türen geöffnet werden: wenn es nicht mehr Therapie mit entsprechendem Qualitätsanspruch sein soll, wenn nur noch von Begegnung die Rede ist, dann könnte jeder Psychopath sich als verkörperte Antithese zur Verfügung stellen. Wir wissen jedoch alle aus eigener Erfahrung, wie heilsam und inspirierend eine Begegnung sein kann mit einem Menschen, der ein größeres Herz hat und energetisch weiter ist als wir. Von daher ist diese Sorge eher ein Scheinproblem und wird sich über den Markt regeln (und bedarf keiner Maßnahmen im Sinne des „Verbraucherschutzes“).
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Die zweitgrößte Dummheit, der man als beginnender Körpertherapeut anheimfällt (Fehler vom Typ „Daisy“), liegt in der Unter- schätzung der Panzerung. Unterschätzung der Panzerung begünstigt die furchtbarste Form der Ineffektivität in der Körperarbeit: senti- mentale Verbrüderung mit dem Klienten ohne Durchdringung der Panzerung, unhealthy confluence, emotionale Dünnbrettbohrerei undsofort. Besteht im ersten Fall (Typ „Donald“) der Irrtum darin, die Behandlerposition einzunehmen und den gesamten Klienten als Behandlungsgegenstand zu definieren, so wird im zweiten Fall (Typ „Daisy“) „der gute Kern“ des Klienten in sentimentaler Weise als natürlicher Verbündeter des Therapeuten in Rechnung gestellt und Panzerung als davon abgetrennt verstanden, als Behandlungs- gegenstand, als etwas, das wegmassiert, ausgedrückt, ausgeatmet oder sonstwie zum Verschwinden gebracht werden kann, wenn man nur lange und gründlich genug mit dem Klienten „daran“ arbeitet. Panzerung in Form gewordener Charakterstruktur ist jedoch das letzte, was wir freiwillig aufgeben und mit Zähnen und Klauen und oft „Nur-über-meine-Leiche“ verteidigen. Wenn die Charakterstruktur herausgefordert werden soll, müssen Krisen her. Die Mechanik des eigenen acts, der eigenen lebenslänglichen Vermeidungsstrategie muss in ihrer Absurdität bewusst werden und sich totlaufen. Man muss an die persönliche Grenze kommen, wo einem speiübel wird von der ewigen Wiederholung der eigenen Masche und den sekundären und tertiären Trostpreisen, die damit eingefahren werden. All diese Krücken müssen weggeschlagen werden. Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung und absolute Nüchternheit sind in dieser Reihenfolge die Stationen, über die der Weg zur Charaktertransformation führt.
Vorher muß jedoch etwas anderes stattgefunden haben: die Kernerfahrung, die Erfahrung des Strömens der natürlichen Kör- perenergien, die Erfahrung von mindestens kurzfristiger Aufhebung der Panzerung, die Erfahrung von Angstfreiheit – kurz: es muss eine konkrete, sinnliche, gesamt-organismische Bezugserfahrung verfügbar sein, jenseits aller Verzweiflung und allen Leidens an der eigenen Panzerung.
Die Arbeit muss, also drei Ziele verfolgen: die Herstellung der Kernerfahrung, die Konfrontation mit der Panzerung und die Lö- sung der Panzerung. Dies erfordert einiges vom „Therapeuten“: a) eine hinreichende Reife und Liebesfähigkeit und die Bereitschaft und Fähigkeit, sich auch auf „schwierige“ Charaktere einlassen zu können; b) einen klaren Blick und ein sicheres Gefühl für Reaktivität, Sentimentalität, Ersatzgefühle sowie die Bereitschaft und den Mut, Leute so damit konfrontieren zu können, dass die Konfrontation zu größerer Bewusstheit und nicht zu noch mehr Reaktivität und Drama beiträgt. Und schließlich c) das Wissen darum, dass Panzerung nicht „weg“behandelt werden, sondern nur in Beziehung transzendiert und gelöst werden kann. Es versteht sich von selbst, dass solches „Arbeiten“, das einen langen Atem und oft unkonventionelle Maßnahmen erfordert, völlig frei sein muss von institutionellen. berufsrechtlichen oder abrechnungstechnischen Regelungen und Reglementierungen jeder Art.
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Die dritte Todsünde in der Körpertherapie (Fehler vom Typ „Goofy“): therapeutische Beliebigkeit, Richtungslosigkeit,
„Schaunmermal-Therapie“. Die vielleicht wichtigste praktische Erkenntnis, die uns Reich für die Körperarbeit hinterlassen hat, ist und bleibt die Entdeckung der segmentären Anordnung der Panzerung und die daraus ableitbare allgemeine Vorgehensweise bei der Lösung der Panzerung. Die Panzerung muss vom Kopf zum Becken gelöst werden, und der Blick des „Therapeuten“ und der “Therapeutin“ muß hinreichend geschult sein, um Stagnation, Scheinbewegung und echte Entwicklung in ihren oft bizarren Erscheinungsformen voneinander unterscheiden und um die „Kli- enten“ im Verlauf dieses Prozesses zum Wachstum herausfordern zu können, ohne sie zu überfordern oder zu unterfordern. Wie auch immer die Arbeit im einzelnen verlaufen mag: in jedem günstigen Fall kann man beobachten, wie Leib und Seele in ihrer Bewegung zunehmend flexibler und einheitlicher – „integrierter“ – werden und diese Integration sich schließlich in der vollständigen Herausbildung und Freisetzung der reflexartig-pulsatorischen Grund- bewegung des Lebendigen (Reichs „Orgasmusreflex“) ausdrückt.
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Mit der Herausbildung des Orgasmusreflexes ist die Arbeit noch nicht zu Ende. Genitalität ist per se keine Garantie für ein glücklicheres Leben. Selbstregulation braucht ein Umfeld: wir brauchen die Gruppe und unsere on-stage-Arbeit, um die Resultate der Kör- perarbeit zu stabilisieren und dauerhaft zu verankern. Die sozialen Implikationen der Lösung der Panzerung (z.B. Unangepasstheit, Zivilcourage) und die deutlichen Umfeldsanktionen, die darauf hin in der Regel in Kraft treten, lassen Selbstregulation als Einzelkämpfertum meistens zum aussichtslosen Unterfangen werden. Viele, die in ihrer individuellen Körpertherapie weit gekommen waren, hatten nach einigen Jahren oft nur noch eine schwache Erinnerung daran, wie gut und lebendig sie sich schon mal gefühlt hatten, weil die Fortschritte in der Zwischenzeit – oft schleichend und unbemerkt – wieder einkassiert wurden.
Zur Stabilisierung der positiven Veränderungen brauchen wir also die Gruppe, und wir brauchen streaming theatre. Eine gut arbeitende Gruppe durchschaut die reaktiven Manöver und Vermeidungsspiele ihrer Mitglieder, läßt sie nicht „durchgehen“ und bewegt sich darüber hinaus permanent in einer Gruppenkultur der Erwartung und Herausforderung und erschafft damit insgesamt das heilsame und manchmal raue Klima, in welchem die Struktur der Panzerung transzendiert werden kann.
Neu erworbene Wahrnehmungs- und Handlungstendenzen verkörpern und integrieren sich selten spontan. Sie haben eine größere Überlebenschance, wenn sie bewusst und diszipliniert in Szene gesetzt und erprobt werden können. Die Puristen und Spontaneitäts-Freaks liegen mit ihrer Abneigung gegen solches „Üben“ völlig schief. Das In-Szene-Setzen unterbelichteter Aspekte des eigenen Selbst (wie auch die bewußte Inszenierung festgefügter Gewohnheiten) kann den Spass am Spielen erwecken und das Bewusstsein dafür, daß alle sowieso immer nur spielen. Fortgeschrittene Spieler auf der Bühne des Lebens erkennen bald, dass sie, wenn sie eine Rolle spielen können, alle Rollen lernen können. Das heißt, sie erwerben ein Gefühl für die totale Beliebigkeit von Charakterstrukturen. Dies kann überraschend schnell der Garaus sein für neurotische Fixierungen, die in herkömmlichen therapeutischen Prozessen oft nicht so leicht gelöst werden können.
Voraussetzung für erfolgreiches Spielen ist allerdings ein vorher durchlaufener körpertherapeutischer Prozeß, in dem die Bereitschaft entwickelt wurde, sich auch mit unangenehmen, schmerzhaften und angstbesetzten Aspekten seiner selbst spielend konfrontieren zu können. Klienten ohne Erfahrung mit Körperarbeit sind oft noch so stark mit der Panzerung identifiziert, daß sie im wörtlichen Sinn keinen Spielraum haben.
Wir können nach den vielen Jahren Erfahrung mit der Skan-Arbeit auf eine Abfolge sich überlappender Arbeitsphasen verweisen, die im Schnitt am effektivsten ist: individuelle Körperarbeit, Gruppenarbeit, Bühnenarbeit. Ausnahmen bestätigen die Regel.